
Zehn Jahre Spaltteam: Zuversicht für Kinder, zehn Jahre Emotionen, Freude, Zuversicht, Frust, Ziele, Dankbarkeit und Zufriedenheit. Zehn Jahre, die uns erfüllter und reich an Erfahrungen und Erlebnissen gemacht haben!
Wir sitzen im Flieger auf dem Weg nach Osh. Zehn Jahre sind vergangen. Meine Gedanken schweifen ab zu unseren Anfängen. Die Orthoklinik ist das Schmuckstück des Spitals und das Vorzeigeobjekt schlechthin. Obwohl auch bei uns uralte, gebrauchte Zahnarztstühle stehen, von welchen seit Jahren keine Ersatzteile mehr erhältlich sind, strahlt der weisse Raum einen modernen Touch aus. Die Atmosphäre wird geprägt durch Informationsbroschüren und von Bildern aus der Schweiz und Kirgisistan. Die Regale sind gefüllt mit Prophylaxe-Artikeln wie Zahnbürsten und Interdentalreinigungsmittel. Ein farbiges Sammelsurium aus diversen Spenden aus der Schweiz. Die Gesichter, die wir seit zehn Jahren begleiten und unterrichten, sind immer noch dieselben. Der Chef-Chirurg und Patron «Osh 1», inzwischen Professor Abduyrakhman Eshiev, sein Sohn und jüngster Professor von Kirgisistan Danijar, sein Schwiegersohn Nursultan und Asamat, ein weiterer Verwandter.
In all den Jahren haben wir eines gelernt: Die Kultur, ihre guten wie ihre schlechten Seiten, mit all ihren Tücken hinzunehmen. Wir hinterfragen das Team, die Mitglieder, die vor allem aus der Verwandtschaft von Osh 1 bestehen, nicht. Wir kennen einander, jeder mit seinem Rucksack, inzwischen so gut, wie sich nur gute Freunde kennen können. Wir wurden zu Familienmitgliedern, waren an Hochzeiten, Geburtstagen und Eröffnungen eingeladen. Wir durften unendliche Gastfreundschaft erfahren, aber in jedem Fall wurde uns unendliche Dankbarkeit von den Cleft-Kindern und deren Eltern entgegengebracht. Wir tauchten tief in die kirgisische Kultur ein, die stark von der russischen geprägt wurde während der UdSSR-Zeiten, und können seither vieles besser verstehen und Handlungen nachvollziehen.
Hochs und Tiefs haben uns begleitet, politische Erschütterungen wie gerade jetzt schütteln uns, unsere Arbeit und die Nachhaltigkeit des Projekts so richtig durch. Die Regierung unternimmt zurzeit viel Anstrengung in der Korruptionsbekämpfung. Natürlich wäre das ein wunderbarer Ansatz, wenn damit mehr Gelder in die Spitäler fliessen würden, diese dann die dringend benötigten Materialien, Maschinen und Instrumente selbst kaufen könnten und die Ärzte auch angemessene Saläre erhalten würden. Aber so sieht die Realität leider nicht aus.
Andere Probleme haben wir gelöst oder auch nicht. Gerade die Schwierigkeiten, mit denen wir uns seit Jahren herumschlagen, sollten wir als Herausforderung sehen. Das gelingt uns nicht immer. Frust und Freude liegen oft nur einen Atemzug voneinander entfernt. Wir suchen immer noch nach Lösungen, wie die Organisation der Spaltsprechstunde oder das Recallsystem zu bewältigen ist. Kulturelle Hintergründe und das (Nicht-)Leistungsdenken der Kollegen stehen uns da im Wege.
Gespannt betreten wir nach einem ganzen Jahr Abwesenheit die Orthoklinik. Im Vorfeld erfuhren
wir, dass ein Behandlungsstuhl defekt ist, einige Geräte wie das EMS nicht mehr funktionieren und Material gebraucht wird. Unsere Ankunft scheint jedes Mal fast wie Weihnachten für das Team. Mit glänzenden Augen verfolgen sie das Auspacken unserer Koffer. Dieses Spektakel hat über die Jahre etwas an Glanz verloren, erlebt jetzt unter den politischen Umständen aber wieder ein Revival. Sehnsüchtig und dankbar nimmt Danjiar die Platten und Schrauben von KLS Martin entgegen und verschwindet damit zufrieden in die Sterilisation.
Es ist nach wie vor «Kirgis-Style», wie sie an einen Fall herangehen. Patient anschauen, beurteilen, was man heute machen möchte, machen könnte, machen will, dann loslegen. Die Notwendigkeit einer Dokumentation wird verdrängt. Statt einer längerfristigen Planung wird der nächste Behandlungsschritt spontan bei jedem Besuch neu definiert. Aufgeschrieben wird leider nach wie vor wenig bis gar nichts. Somit ist eine laufende kieferorthopädische Behandlung kaum nachvollziehbar für Marcel. Dies verlängert den Behandlungszeitraum um Monate oder gar Jahre, was bei dieser hohen Kariesaktivität schwerwiegende Folgen hat. Es ist nicht unüblich, dass zwischen einer Kontrolle Zähne gezogen wurden wegen Schmerzen und man plötzlich vor einer komplett neuen Situation steht.
Mit dem aktuellen Einsatz setzten wir zusätzlich ein Zeichen, da die Spaltchirurgin Dr. Tine Jacobson als Frau im sonst von Männern dominierten Team mit dabei ist. Für einen kirgisischen Gott in Weiss, als welche die Ärzte hier noch immer angesehen werden, ist dies eine unvorstellbare Tatsache. Nach dieser Woche meinte Danjiar anerkennend: «Bis heute habe ich mir nicht vorstellen können, dass eine Frau Spaltchirurgin sein kann!» Er habe nun verstanden, dass wenn man eine gute Technik habe, gar nicht so viel Kraft nötig sei. Er habe seine Meinung revidieren müssen und freue sich auf weitere Operationen mit ihr. Ein schöneres Kompliment hätte er ihr wohl nicht machen können.
Nach jahrelangem Kampf haben unsere kirgisischen Freunde endlich erkannt, dass Logopädie zum Wohle jedes einzelnen Kindes für ein Spaltteam unerlässlich ist. Sie fragten um Unterstützung und nun ist Sabine Peter als Myofunktionstherapeutin mit dabei. Ziel ist es, auch hier in Zentralasien Frauen auszubilden, die mit viel Interesse und Motivation weiter lernen möchten. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Menschen in Schwellenländern nach Ausbildung und Know-how lechzen. In einer Gruppe von sechs Logopäden werden in dieser Woche Informationen, Übungen und interkulturelles Wissen ausgetauscht. Sabine findet viel Befriedigung und gebührende Anerkennung bei den Ärzten, den Patienten und den unglaublich dankbaren Eltern.
DANKE an alle, die uns auf irgendeine Weise unterstützt oder geholfen haben, das Spaltzentrum in Osh aufzubauen.